Livestream-Review: OBITUARY

Manchmal hat man den Eindruck, diese Pandemie zerstört nicht nur reales Leben, sondern macht auch das Internet kaputt. Mit massiven Soundaussetzern beginnt jedenfalls der Live Stream zu “Cause Of Death”, dem Zweitwerk von OBITUARY, die hier nun eher wie KATAKLYSM klingen, furchtbar. Vielleicht versucht man ja auch, den Spirit von damals einzufangen und setzt auf originale Streaming-Technik von 1990, who knows. Nach ein paar Minuten unterbricht jedenfalls jemand die Band, ein erschrockenes »You’re kidding me.« ist das letzte, was man hört, dann herrscht Funkstille. Pause Of Death. Vielleicht sollte man über Vorbands für solche Events nachdenken, die eventuelle Startschwierigkeiten ausbaden können, hat sich „in echt“ ja auch bewährt.

Satte 20 Minuten lang bleibt der Bildschirm dunkel, das Publikum (ich) wird langsam unruhig. Traue mich nicht, noch mal zur Bar (Kühlschrank) oder aufs Klo zu gehen, aus Angst, den Anfang zu verpassen. Dabei könnte man ja jederzeit zurückspulen oder die Zeit anhalten, irre! Dann geht’s unvermittelt wieder los, und zwar mit: »Thank you, good night!« Besser kann man so eine Situation glaube ich nicht lösen.

Der Sound passt jetzt, ist sogar richtig geil. Ok, die Drumtrigger nerven anfangs etwas, aber man gewöhnt sich ja schnell an fast alles. Für den Bassgitarrensound möchte ich jemanden küssen, ist aber keiner da. Die Zutaten von “Cause Of Death” sind bekanntlich erstaunlich simpel, in der Summe ergeben sie aber etwas, das nicht unbedingt einfach zu reproduzieren sein dürfte, schon gar nicht Jahrzehnte später, aber OBITUARY kriegen es hin, mehr noch, zeigen, dass ‘Infected’ oder ‘Body Bag’ 2020 noch frisch klingen können, auch wenn John Tardy vielleicht nicht mehr ganz so unartikuliert in’s Mikro reihert. Es ist also mitnichten eine bloße nostalgische Veranstaltung für dicker werdende Herren mit dünner werdenden Haaren, das zeigen auch die eingeblendeten Fanfotos. Death Metal als generationsübergreifendes Phänomen — hätte sich 1990 vielleicht auch kaum einer so ausgemalt.

‘Circle Of The Tyrants’ (mit RIP-Einblendung von Martin Eric Ain) kommt deutlich fetziger als auf der ca. vierzig Jahre alten Aufnahme, kann man mal so stehen lassen. Überhaupt: die Band hat sichtbar Bock! Punkt Mitternacht (in Florida ist es jetzt 18 Uhr): ‘Cause Of Death’. Absolut auf den Punkt. Nach dieser Machtdemonstration steht die Band offensichtlich etwas ratlos im stillen Studio.
»Whoa.«
»Are you guys cheering at home?«,
»WE CAN’T HEAR YOU!«
Hehe, ich habe nicht geklatscht, mucksmäuschenstill saß ich vor meinem Notebook, aber innerlich bin ich schon ein bisschen ausgeflippt. Als Zugaben gibt es noch ‘Straight To Hell’, ‘Threatening Skies’, ‘By The Light’ (yeah!) und ‘I’m In Pain’, am Ende bin ich ergriffen — und erschrocken über die plötzliche Stille. Also zerdrück ich eine leere Dose an meinem Kopf und schmeiße sie in die Ecke, um etwas „Clubfeeling“ zu simulieren. Klappt aber nicht, vor allem, weil ich den Dreck selbst wieder aufwischen darf.

Fazit: Am Ende ist so eine Veranstaltung natürlich kein Ersatz für ein Konzert in Fleisch und Blut, aber es ist eine gute Möglichkeit, im kulturellen Nirwana nicht komplett in die Erwachsenenwelt abzurutschen und sich am Ende vielleicht noch aus Langeweile Gedanken über Altersvorsorge und Hausratversicherungen zu machen. Das gilt übrigens auch für die Musiker, die man so direkt supporten kann. Manches ist sogar von Vorteil: man kann einfach den Computer zuklappen und muss nicht noch mühsam nach Hause eiern und seine Hose ausziehen. Außerdem sind der Sound und das Bier (Dosenbier) besser, die Toilette sauberer (ja, ich schwöre!). Und die Leute sind auch angenehmer. Naja. Sicher gibt es bessere Zeiten, doch diese ist die unsere. Am 7. November streamen OBITUARY “Rare Classics & Special Tracks” live aus Florida.

Thomas Ertmer