GRAVE PLEASURES Interview – Teil 2

Liebe, Tod und Tinder

Im letzten Heft war nicht genug Platz, um das GRAVE PLEASURES-Interview in voller Länge abzudrucken. Da Mat McNerney auch inhaltlich zum neuen Album „Plagueboys“ so viel Lesenswertes zu erzählen hatte, folgt nun der zweite Teil.

Mat, im Promozettel zum neuen Album wird eine Verbindung zu William Golding, der „Herr der Fliegen“ schrieb, und Aldous Huxley, dem Autor von „Schöne neue Welt“, hergestellt. Warum?
»Schriftsteller wie sie hatten eine sehr wichtige Ansicht bezüglich dunkler Zeiten. Die Art und Weise, wie die Gesellschaft versucht, mit den schlimmen Dingen, die passieren, umzugehen, ist der, dass wir oft auf etwas sehr Blutiges und Brutales blicken, auf schonungslosen Horror. Mit diesem Album wollten wir aber eine subtilere Idee der Apokalypse erschaffen – auch die kleine Apokalypse, die dich auf einem persönlicheren Level trifft, wie die COVID-Pandemie. Die Leute haben Familienmitglieder verloren oder konnten sie nicht treffen. Ich konnte meine im Sterben liegende Mutter nicht besuchen, und als die Pandemie vorbei war, verstarb sie. Wir haben diese Jahre verloren. Schriftsteller wie sie verweben die persönlichen mit den allgemeinen Geschichten. Das war auch die Idee für das Album: Es sollte sehr persönlich werden, aber auf einem Level, in das die Leute sich hineinversetzen können.«
Würde das Album eigentlich auch „Plagueboys“ heißen, wenn es die Pandemie nicht gegeben hätte?
»Ja, denn den Titel gab es schon länger. Das ist ein Titel, der auf vielen Ebenen funktioniert, und eine davon ist, dass es auch ein guter Name für die Band gewesen wäre. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir ein bisschen unwillkommen waren, als wir anfingen. Es war nicht wirklich etwas, das die Leute wollten. Es war verwirrend und griff Aspekte von Musik auf, die vielleicht nicht so cool waren. Aber nun sind andere Bands davon beeinflusst, und ich denke, dass wir da etwas losgetreten haben. Anfangs dachte ich also, dass wir ein bisschen wie eine Plage waren. Wenn man aber auf einem anderen Level darüber nachdenkt, könnte sich das auf die Diskussion über toxische Maskulinität beziehen, die wir führen. Der Titel fasst zusammen, was in der Zeit, in der wir weg waren, passiert ist. Seit dem Ende des Tourings für „Motherblood“ sind die Welt und die Diskussionen in der Welt ganz anders. „Plagueboys“ war also ein Titel, der umso besser passte, je weiter sich die Dinge entwickelten. Er passte einfach zu der abgefuckten Welt, in der wir leben.«
Kinder sind üblicherweise ein Symbol der Unschuld. Bei euch kommen die Jungs aber mit einer Plage daher, und ein Mädchen steht im Opener ´Disintegration Girl´ für das Ende der Welt. Kannst du das bitte erklären?
»Ich denke, das ist mein Versuch, die Welt, in der ich aufgewachsen bin, mit der heutigen Welt, in der ich selbst Kinder habe, zu vergleichen und dem Ganzen einen Sinn zu geben. Wir wuchsen mit sehr traditionellen Rollen auf, und das hat sich alles geändert. Vieles auch zum Besseren, denn es gibt mehr Chancengleichheit. Infolgedessen gibt es aber auch viel Verunsicherung, viele Dinge kommen an die Oberfläche. Ich mag die Art und Weise, wie die Bedrohung durch einen nuklearen Krieg viele große Themen der Menschen beeinflusst. Es gibt viel sexuelle Energie, viel Spannung, vieles hat mit Liebe, aber auch mit dem Leben und dem Tod zu tun. Diese Themen entladen sich, und ich mag den Gedanken, dass wir unsere kleinen Leben mit etwas so Großem verbinden. Das ist das Herz dessen, was GRAVE PLEASURES ist. Es ist gleichzeitig Liebe und Tod, es ist Grab und Freude. Rock´n´Roll und gute harte Musik müssen sich mit dem Tod befassen. Ich kann nichts mit Musik anfangen, die sich nicht richtig und auf konfrontative Art und Weise mit Leben und Tod befasst.«
Trotz aller Möglichkeiten scheint es heutzutage schwieriger geworden zu sein, den richtigen Partner fürs Leben zu finden. Hast du beim Text von ´Heart Like A Slaughterhouse´ an so etwas gedacht?
»Mein Gefühl war, dass Liebe ein bisschen aus der Mode gekommen ist. So etwas wie lebenslange Partnerschaft ist genauso out wie der Job fürs Leben. Liebe wird immer brutaler und harscher. Wenn ich meine Lebenspartnerin nicht hätte, wäre ich ängstlich und abgestumpft angesichts der Art und Weise, wie die Welt mit Liebe umgeht. Viele Songs, die wir schreiben, haben eine witzelnde, ironische Seite, aber es gibt auch eine sehr ernste Seite. Ein Song wie dieser ist oberflächlich betrachtet fröhlich und zum Lachen, hat aber einen sehr ernsten Hintergrund. Je einfacher es wird, gesellig zu sein, desto einfacher wird es, einsamer zu sein. Das ist das zweischneidige Schwert des Dating-Spiels. Die Leute erzählen, dass es so einfach wäre, Menschen zu treffen. Das ist toll, das macht Spaß, aber gleichzeitig sind sie so unglaublich einsam, weil es immer schwieriger wird, eine echte Beziehung zu entwickeln, wenn die Menschen daran nicht mehr gewöhnt sind. Sie sind daran gewöhnt, Freundschaften mit einem Mausklick zu schließen, statt sich die Zeit zu nehmen, einander wirklich kennenzulernen. Ich dachte bei dem Song an Sachen wie Tinder. Du hast ein Tinderdate für die Party und eines für die Party danach. Das ist wie ein kannibalistisches Drei-Gänge-Menü.«
´When The Shooting´s Done´ ist ein wirklich schöner Song und hartnäckiger Ohrwurm. Wenn man sich den Text anschaut, ist es aber ein sehr trauriges Stück. Du magst diese Gegensätze, richtig?
»Ja, auf jeden Fall. Das war von Anfang an eine der Stärken der Band. Ich liebte schon immer Killing Joke, den Bandnamen genauso wie die Musik. Und The Smiths auch. Sie schrieben fröhliche Songs darüber, traurig zu sein. Und das hat mich immer mehr berührt als Songs, die nur traurig oder nur fröhlich sind. Danach strebe ich, wenn ich Songs schreibe. Bei diesem Song hatte ich einen Highschool-Todesschützen im Kopf, dieses „Wir gegen den Rest der Welt“-Thema von Bonnie und Clyde. Aber als er sich entwickelte, ging es mehr um den Ukraine-Krieg oder eine ähnliche Situation, in der du der Außenseiter bist. Als Zivilisation beginnen wir, durch diesen Krieg zu verstehen, dass wir nicht durch moderne Kultur gerettet werden, sondern dass der Stärkere gewinnt. Das ist sehr traurig zu sehen.«
´High On Annihilation´ und ´Imminent Collapse´ sind die einzigen Songs mit einem Ich-Erzähler. Was erzählst du uns darin über dich selbst?
»Das sind recht autobiografische Songs, in denen ich versuche, mir einen Reim auf die Welt um mich herum zu machen. Die harsche Realität des Lebens mit der Bedrohung durch den Tod ist recht präsent, wenn du in einem subarktischen Klima mit extremen Temperaturen konfrontiert bist. Du gehst vor die Tür und verstehst sofort, dass Überleben ein reales Konzept ist, über das du dir Gedanken machen und worauf du dich vorbereiten solltest. Schon vor der Pandemie wartete jeder auf die große Rezession. Es gab den Brexit und solche Sachen, und es schien, als würden wir in eine sehr ernste Phase der Geschichte kommen. Ich wollte all diese Dinge irgendwie verstehen und dann einfach mein Leben leben und so glücklich wie möglich sein, denn wir können diese Dinge nicht ändern, sondern müssen mit ihnen leben.«
Im Song ´Lead Balloons´ gibt es die herausstechende Textzeile „We have to separate the animals“, deren Sinn mir aber verborgen blieb. Kannst du das bitte erklären?
»Das ist das „Jeder gegen jeden“-Thema. Wir streben konstant danach, unsere Gesellschaft auf gewisse Weise zu säubern. Das geschieht auf vielerlei Weise. Wir sehen das jetzt in der Cancel-Culture-Diskussion. Das ist ein sehr interessantes Thema, weil wir sehen können, wie Faschismus entstehen kann. In Zeiten des Friedens greifen wir uns gegenseitig an und agieren gegeneinander. Das ist wie ein Zoo, wir müssen die Tiere stetig trennen, wir denken darüber nach, die einen Menschen hierhin zu stecken und die anderen dorthin, und dann wird alles gut. Wir merken aber nicht, dass wir als menschliche Wesen alle nur Tiere sind.«
Allein durch das Wort „balloons“ im Titel dieses Songs muss ich übrigens an ´99 Luftballons´ von Nena denken, aber da gibt es keine Verbindung, oder?
»Doch, natürlich. Das war ein großer Hit, als ich jung war, und ich liebte dieses Lied. Wenn man einen Song schreibt, muss man seinen Song an eine andere Idee anheften, und wenn das ein so großer Song ist, kann man das ruhig machen. Das ist tatsächlich eine direkte Referenz, denn es ist ein sehr apokalyptischer Song. Ein Ballon ist ein sehr tragisches Symbol. Ich habe Kinder, und Ballons machen sie aus nicht nachvollziehbaren Gründen sofort sehr aufgeregt. Wirf einen Ballon ins Zimmer, und sofort gibt es Spaß und Freude. Aber einer aus Blei ist ein sehr düsteres Bild, denn dann ist er ein nutzloses Objekt, das eigentlich Freude bringen sollte. Und so fühlten wir uns in den letzten Jahren, das Vergnügen wurde aus allem herausgesaugt.«
Hast du noch Hoffnung, dass unsere Gesellschaft von Geistern (´Society Of Spectres´) irgendwann noch mal zu einer Gesellschaft menschlicher Wesen wird?
»Ich mag die Idee, dass es besser wird, je schlimmer es wird. Vielleicht wird es in dem Moment, bevor wir uns in die Vergessenheit vernichten, einen Moment der Erleuchtung geben, in dem die menschliche Kultur zusammenkommt, und nur für ein paar Sekunden sind wir in dem Gedanken vereint, wie es so weit kommen konnte. Vielleicht braucht es das, um die Gesellschaft neu zu erschaffen oder zu erkennen, was es heißt, Mensch zu sein. Aber je schlimmer die Dinge werden, desto bessere Seiten kommen zum Vorschein. Das sieht man am Krieg, der bringt gleichzeitig das Schlimmste und das Beste im Menschen hervor.«

ANDREAS SCHULZ
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